von Martin Hafen
Ist die Corona-Krise ein Wendepunkt?
Im europäischen Kontext wurde das altgriechische Wort «krisis» – damals verstanden als «entscheidende Wendung» – zuerst vor allem in der medizinischen Fachsprache genutzt (Duden 2001). Es beschreibt in dieser Fassung den «Höhe- und Wendpunkt einer Krankheit». In der Folge verallgemeinerte sich die Bedeutung von «Krise» hin zum heute üblichen Verständnis als «entscheidende, schwierige Situation». In der chinesischen Sprache setzt sich das Wort «Krise» aus den Teilwörtern «wei» und «ji» zusammen. «Wei» bedeutet «Gefahr». In Hinblick auf den zweiten Wortteil hat sich im westlichen Kulturkreis mehrheitlich die Meinung durchgesetzt, «ji» bedeute «Gelegenheit» oder «Chance». Diese positiv konnotierte Deutung ist gemäss dem Sinologen Victor H. Mair (2009) falsch. «Ji» bedeute für sich «Anfangspunkt» oder «Wendepunkt» und sei nicht mit einem positiven Verlauf konnotiert. Das Missverständnis in der westlichen Interpretation habe sich durch das Wort «jihui» («Gelegenheit») etabliert, dessen Bedeutung fälschlicherweise auf «ji» übertragen worden sei.
Drei mögliche Entwicklungen
Die hier vorgenommenen Überlegungen setzen voraus, dass die Corona-Krise als «Gefahr» zu verstehen ist. Die stetig steigende Zahl der Opfer, die Beeinträchtigung der Wirtschaft und die psychische Belastung der Individuen sollen diesbezüglich als Indiz gelten. Inwiefern die Corona-Krise auch ein Wendepunkt ist, und in welche Richtung eine allfällige Wende gehen wird, das wird die Zukunft zeigen. Es eröffnen sich drei mögliche Entwicklungen: Nach der Bewältigung der Krise wird alles mehr oder weniger so sein wie zuvor, oder aber die Gesellschaft verändert sich entweder in eine eher günstige oder in eine eher ungünstige Richtung, wobei die Wertung als «günstig» oder «ungünstig» immer die Wertung eines Beobachters – hier des Autors – ist.
«Nach der Bewältigung der Krise wird alles mehr oder weniger so sein wie zuvor, oder aber die Gesellschaft verändert sich entweder in eine eher günstige oder in eine eher ungünstige Richtung.»
Zwischentitel: Durch die Krise in eine bessere Zukunft?
Für die erste Möglichkeit spricht das spürbare Bedürfnis der Bevölkerung und der Politik, möglichst schnell wieder zum «normalen» Leben zurückzukehren. Auf die Möglichkeit einer insgesamt ungünstigen Entwicklung deutet der nationalstaatliche Egoismus und Opportunismus hin, der sich unter anderem in der erschreckenden Ignoranz gegenüber dem Flüchtlingsdrama manifestiert, dass sich aktuell auf Lesbos und an vielen anderen Orten auf dieser Welt abspielt. Weiter stellt sich angesichts der Klimaerwärmung und den damit verbundenen ökologischen und sozialen Problemen die Frage, ob eine Rückkehr ins «normale Leben» nicht eine höchst ungünstige Entwicklung per se darstellen würde. Das führt uns zur dritten Möglichkeit: dass die Corona-Krise der Wendepunkt in Richtung einer Zukunft ist, in der die Ausbeutung und die Zerstörung der ökologischen Umwelt gestoppt, die sozialen Ungleichheiten reduziert, gerechte Steuern eingezogen, die Menschenrechte durchgesetzt, die Rechte von Kindern und Minderheiten respektiert, die Frauen endlich den Männern gleichgestellt und basisdemokratische Staatsformen nicht nur propagiert, sondern auch gelebt werden. Ob es zu dem dafür notwendigen «Green New Deal» (Klein 2019) kommen wird, wissen wir nicht. Wir können es nur hoffen.
Erwähnte Literatur
- Duden (Hrsg.) (2001) Duden. Das Herkunftswörterbuch – Etymologie der deutschen Sprache. 3., völlig neu bearb. und erw. Auflage. Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich: 454)
- Klein, Naomi (2019). Warum nur ein Green New Deal unseren Planeten retten kann. Hamburg: Hoffmann und Campe.
- Mair, Victor H. (2009). danger + opportunity ≠ crisis. http://pinyin.info/chinese/crisis.html (Download 25.04.2020).
Martin Hafen
Martin Hafen
Der Sozialarbeiter und promovierte Soziologe arbeitet als Dozent an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit. Seine thematischen Schwerpunkte sind die Prävention, der Frühbereich und Fragen der sozialen Gerechtigkeit.
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