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Ist es Zeit für ein neues Gesellschaftskonstrukt?

Eine einzigartige Gelegenheit, über die Post-Pandemie-Gesellschaft nachzudenken (Foto: Edwin Hooper/unsplash)

Die Originalversion des Texts ist französisch.

Die Covid-19-Krise beeinflusst unsere Gesellschaft aussergewöhnlich stark. Und wir wissen: Jede Krise beschleunigt den Wandel. Aus diesem Grund lancieren wir den Swiss Society Blog während der ersten Phase des Ausstiegs aus dem Lockdown Ende April 2020. Denn wir halten es für wesentlich, in der Schweiz sofort einen Dialog zu gesellschaftlich relevanten Fragen in Gang zu setzen.

Die durch Covid-19 ausgelöste Gesundheitskrise weicht einer beispiellosen weltweiten Wirtschaftskrise, die unser politisches System erschüttert und Auswirkungen auf die Gesellschaft als Ganzes, aber auch auf unsere individuellen Freiheiten haben wird. Diese Ausnahmesituation fordert uns heraus und beunruhigt uns, denn sie geht mit zahlreichen Unsicherheiten einher. Wie sehr wird unser Leben betroffen sein, werden wir ein Danach erleben, das mit unserem bisherigen Leben nichts mehr gemein hat? Die Grundprinzipien des Gesellschaftsvertrags, den wir als das Gleichgewicht der Wechselwirkungen zwischen Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft kennen, werden sich zweifellos verändern. Wird sich der Staat der Steuerung wirtschaftlicher Aktivitäten zuwenden, wird er die Verwaltung digitaler Plattformen übernehmen? Auf welche Art von Staat bewegen wir uns zu? Wird die Wirtschaftskrise zu mehr lokalen und ökologischen Konsummustern sowie zu einer digitaleren und flexibleren Arbeitsweise führen? Werden wir der Chancengleichheit in einer zunehmend unsicheren Zukunft den Vorrang einräumen? Wird ein bedingungsloses Grundeinkommen wieder auf den Verhandlungstisch kommen?

Wie wird die Zeit nach der Krise aussehen?

Niemand weiss wirklich, wie die Zeit nach der Krise aussehen wird. Die Expertenmeinungen driften auseinander. Sicher aber öffnet sich uns ein Zeitfenster, in dem wir die einzigartige Gelegenheit haben, um über unsere Zukunft als Gesellschaft nachzudenken. Packen wir sie und stossen wir die dringliche Reflexion darüber an, was die Krise zu Tage gefördert hat!

Wertschätzung systemrelevanter Berufe

Nehmen wir als Beispiel die ausserordentliche Mobilisierung systemrelevanter Berufe. Ausgerechnet jene Berufsgruppen, die in normalen Zeiten unsichtbar bleiben: das Gesundheitspersonal und alle Berufe, ohne die ein Gesundheitswesen nicht funktionieren kann. Das Pflegepersonal, das sich um alte Personen oder um Menschen mit Behinderung kümmert. Das Personal der Kleinkinderbetreuung. Aber auch Mitarbeitende im Lieferdienst, der Postzustellung, des Detailshandels, in den Supermärkten, in der Landwirtschaft oder in der Müllentsorgung. Wir interessieren uns kaum für diese schlecht bezahlten Berufe mit schwierigen Arbeitsbedingungen, die oft von Frauen oder ausländischen Arbeitskräften ausgeübt werden. Es ist an der Zeit, dass diesen Berufen die soziale und lohnpolitische Anerkennung gezollt wird, die jedem systemrelevanten Beruf zusteht. Auch müssen wir in ihre Strukturen investieren. Als konkretes Beispiel: Kinderkrippen werden solch kritische finanzielle Situationen nur mit staatlicher Unterstützung überstehen, also hilft es langfristig mehr, sie als wichtige Akteure unserer Wirtschaft anzuerkennen. Selbstverständlich brauchen sie bei der Bewältigung der gegenwärtigen Schwierigkeiten Unterstützung, vor allem aber müssen wir das Problem an der Wurzel anpacken, damit eine bessere Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben bei gleichzeitiger Chancengleichheit für jedes Kind gewährleistet werden kann.

Die (zu) stärkende Rolle der Kultur

Ebenfalls müssen wir uns bewusst werden, dass die Krise die einigende Rolle der Kultur in unserer Gesellschaft hervorhebt. Dieser Sektor ist derzeit von seinem Publikum abgeschnitten und wird durch seine unzureichende Finanzierung untergraben. Einige ihrer Zweige werden sich zusätzlich aufgrund der gesundheitlichen Unsicherheit, die Teil unseres Lebens werden könnte, neu erfinden müssen. Überprüfen wir doch die in der Kulturwelt üblichen Finanzierungsmodelle, denn die Kultur spielt eine wichtige Rolle bei der Bildung einer kritischen Gesellschaft und ist entscheidend für den Zusammenhalt unserer multikulturellen Gesellschaft.

Das richtige Gleichgewicht

Schliesslich zeigen uns die unzähligen Aktionen der Solidarität und Kreativität, die die Krise hervorruft, dass das Zusammenleben für uns unverzichtbar ist. Dass es uns zu Individuen macht, zu einer verantwortungsvollen Gemeinschaft, zu einem gesellschaftlichen Akteur. Dass wir gemeinsam eine Gesellschaft bilden, die sich auf das Gleichgewicht zwischen dem staatlichen Rahmen und der individuellen Freiheit einlässt – übrigens eine der zentralen Fragen jeder Demokratie.

«Sicher aber öffnet sich uns ein Zeitfenster, in dem wir die einzigartige Gelegenheit haben, um über unsere Zukunft als Gesellschaft nachzudenken.»

Das Swiss Society Lab wurde just Anfang Jahr als Thinktank für Gesellschaftsfragen in der Schweiz gegründet. Mit diesem Blog bietet es eine Plattform zum Beobachten, Reflektieren und Handeln mit Blick auf gesellschaftliche Veränderungen und Entwicklungen. Denn wir wissen: Jede Krise bringt Veränderungen mit sich. Ihre Gedanken und Ideen, liebe Leser·innen, fliessen in unsere Arbeit ein und beeinflussen die Studien, Diskussionen und Vorschläge für politische Lösungen, die in den kommenden Monaten und Jahren entstehen werden.

Vielen Dank und passen Sie auf sich auf!

Muriel Langenberger

Muriel Langenberger

Muriel Langenberger

Die Gründerin des Thinktanks Swiss Society Lab war bis Ende 2019 Mitglied der Geschäftsleitung der Jacobs Foundation. Vor 2013 war sie als Leiterin des Bereiches Kinder- und Jugendpolitik beim Bund tätig. Bis 2008 arbeitete sie zwölf Jahre lang bei der Stiftung Terre des hommes zuerst im Mittleren Osten, dann in Asien und zuletzt als Leiterin der Programme in der Schweiz. Sie erwarb 1995 einen Master in internationalen Beziehungen des Graduate Institute for International and Development Studies in Genf.

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Kommentare

Kommentar von Chris

Sehr gut erfasst! Aus einer weiteren Perspektive gilt es, meines Erachtens, nicht nur den erwähnten Sektoren und den da tätigen Personen die verdiente (Be-)Achtung zu schenken, sondern auch denjenigen, die ebendiese bereits erhalten, zu hinterfragen. Die hier angeregte Diskussion ist eine, die auf Ebene der Systeme stattfindet und damit anschliesst an solche der jüngeren Zeit. So fordert "die Klimajugend" system change anstatt climate change und bezieht sich dabei insbesondere auf das kapitalistische Wirtschaftssystem, welches unsere Gesellschaft und die Welt, in der wir leben, prägt. Hier können wir viel erreichen - auch wenn die Diskussion zuweilen als utopisch bezeichnet werden wird.

Kommentar von Ueli Anken

Neue Unsicherheiten zusätzlich zur bestehenden und stetig wachsenden Komplexität akzeptieren. Lernen, damit lebensfroh und -mutig umzugehen. Die Krise und was folgen wird, schafft viel Raum, um das zu lernen. Mir begegnet diese Lernreise im Kontext Bildung und auch im Sport. Bemerkenswert, was dabei geleistet wird. In mancher Hinsicht erinnert es mich an den Sommer 1993 in einer recht bekannten Firma, damals in Romanel-sur-Morges ;) Dazu ist letzthin dieser Beitrag entstanden: https://punkt4.info/social-news/news/wei-ji-im-corona-fruehling-eine-chance-fuer-die-schule.html

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